Ich hatte einen Lauf…

Ein Bericht von Ha-We Rehers aus Osnabrück:

Neben dem Comrades- Ultra waren die www.100meilen.de auf dem Mauerweg 2016 für mich das herausragende läuferische Ereignis, zumal ich als einer von Fünfen die Möglichkeit hatte, zum fünften Mal zu finishen.

Wie immer machen wir uns am Vortag per Bahn auf die Reise nach Berlin, neben Günter Liegmann und Frau begleitet mich Werner Hülsmann, der von seinen Geschwistern zum 60. Geburtstag die Teilnahme als Staffel „Werner- Das Rennen“ geschenkt bekommen hat.
Per Taxi sind wir rasch im Hotel, checken ein und begeben uns zur Startnummernausgabe, Pastaparty, Briefing und der Informationsaustausch mit vielen bereits anwesenden Lauffreunden tragen dazu bei, die Spannung auf das Niveau zu bringen, dass man dem Start entgegen fiebert und der Schlaf nicht so ist, wie man es gern hätte.
Sei´s drum, um 3:30 Uhr schellt der Wecker, gefrühstückt wird ab 4 Uhr, Christian Pflügler und Carmen Gottlob haben sich freundlicherweise bereit erklärt, uns mitzunehmen zum Friedrich- Ludwig- Jahn- Sportpark am Prenzlauer Berg, um kurz nach 5 Uhr holen sie uns ab.
Carmen begleitet Christian auch 2016 auf dem Rad bei seinem Lauf um die Stadt.
Wie eigentlich alles bei dieser tollen Veranstaltung klappt auch die Dropbag- Abgabe problemlos, wer noch Hunger hat, kann ein zweites Frühstück zu sich nehmen, man trifft Teilnehmer, die man am Vortag noch nicht gesehen hat, und ich freue mich, dass mit Stefan Bicher, Kay Giese, KLaus „Keule“ Neumann, Rene Wallesch und mir das 100 MC- Quintett komplett und gewillt ist, sich bei der Ehrung als Fünffach- Finisher feiern zu lassen, wenn man denn innerhalb von dreißig Stunden das Ziel sieht.
Allmählich begeben sich alle auf die Laufbahn zum Start, um zunächst 300 Meter im Kreis und danach weiter gen Süden zu laufen.
Beim Verlassen des Stadions entdecke ich Horst Milde, wechsle einige Worte mit ihm und stelle danach fest, dass sich die rote Laterne bereits in meinem Besitz befindet.
Sei´s drum, entspannt schlurfe ich dem Feld hinterher getreu meiner vorher angedachten Taktik, ganz langsam zu beginnen (7,5 km/Stunde), noch langsamer zu finishen und jede wie auch immer geartete „Steigung“ zu gehen.
Außerdem werde ich wie vor einem Jahr vom Rennarzt Carsten Böhlke empfohlen alle 20 bis 30 Minuten zwei Schluck Apfelschorle mit Basica trinken, deshalb habe in meinem HOKA- Rucksack einen Liter dieses edlen Gesöffs.
„Don´t stop“ ist ein Tipp, den ich mir schon beim Comrades mit seinen 52 VP mit Erfolg zueigen gemacht habe, und das Gleiche möchte ich auch an den 27 VP des Mauerweglaufs so konsequent wie möglich durchziehen, weil laut Adam Riese 27 mal eine Minute Stehenbleiben bereits eine knappe halbe Stunde ergeben, obwohl das allein auf Grund des Angebots nicht so leicht werden würde.
Erstmalig laufen wir in diesem Jahr bei km 7 durch das Brandenburger Tor, wo Andreas Deak mit seinem Team eine Mauer aus Holz“steinen“ aufgebaut, die vom Starterfeld sukzessive abgebaut wird.
Es folgen das Asisi- Panorama, Checkpoint Charlie, die East- Side- Gallery und die Oberbaumbrücke, durch Treptow gelangen wir auf ein sieben km langes praktisch geradeaus führendes Asphaltband zwischen der A 113 und dem Teltowkanal, an dessen Ende wir in Rudow den östlichsten Punkt unseres Wegs erreicht haben.
Erstaunlicherweise bin ich relativ allein unterwegs, man sieht zwar andere Laufende, alle sind aber so im Flow, dass mittlerweile scheinbar keinem der Kopf nach Reden ist.
Den VP 5 bei KM 31,2 erreiche ich nach 3:47 Std., liege also leicht vor meinem Zeitplan, mal schauen, wie lange ich das „Tempo“ halten kann.
Am Kirchhainer Damm bei VP 7 komme ich nicht nur zum südlichsten Punkt des Kurses, sondern habe auch den ersten (von knapp 4) Marathon geschafft, die Uhr sagt 5:10 Std., damit bin ich mehr als zufrieden, mir geht´s gut, nichts tut weh, so kann es weiter gehen.
Jetzt führt der Weg nach Westen, die Sonne gibt mittlerweile ihr Bestes, clevererweise habe ich wieder wie im Vorjahr mein Sonnenschirmchen dabei, das als Mütze fungiert und mich im Schatten laufen lässt.
Kurz vor dem Sportplatz Teltow, dem ersten von drei WP, passieren wir die Gedenkstele für Karl- Heinz Kube, der 1966 bei einem Fluchtversuch tödlich verletzt wird und dessen Konterfei die diesjährige Startnummer und Finishermedaille ziert.
Mit 7:34 Std. liege ich bei km 59 immer noch gut im selbst gesteckten Zeitrahmen, verstaue den Dropbag- Inhalt im Rucksack, mache mich frisch und bin rasch mit dem Gedanken im Hinterkopf: Ab jetzt nur noch zweistellig! wieder unterwegs Richtung Königsweg, der 7 km lang ist und von dem aus man beim Überqueren der Autobahn einen Blick auf den ehemaligen Kontrollpunkt Dreilinden werfen kann.
Im Norden von Kleinmachnow steht ein Gedenkkreuz für Karl- Heinz Kube, kurz danach am VP 11 treffe ich meinen Laufkumpel Günter, dem es magen- und beintechnisch nicht gut geht, und Olaf Häsler vom 100 MC, der von seinem zukünftigen Schwiegersohn auf dem Radl gecoacht wird.
Auf der endlos langen, aber welligen Geraden des Königswegs komme ich mit Birgit Schmidt- Boese vom TriTeam GT ins Gespräch, die sich seinerzeit mit Joey Kelly in Südafrika „duelliert“ hat, und der gleiche Joey trudelt mit Günter beim VP 12 Gedenkstätte Griebnitzsee (km 72) gerade in dem Moment ein, als ich diesen wieder verlasse.
Hier hat sich auch Svenja John entschieden, es gut sein zu lassen, ab sofort ist ihr Dennis allein unterwegs.
Babelsberg und Potsdam sind einfach nette Orte, hier lasse ich es noch langsamer angehen als eh schon, um einen Blick auf die Gegend, die Häuser, die Menschen zu werfen, die unser Tun ungläubig applaudierend zur Kenntnis nehmen und einfach nicht nachvollziehen können, dass es Leute gibt, die den Mauerweglauf in einem Rutsch absolvieren.
Nach der Glienicker Brücke beginnt die Vorfreude auf den VP 13, Brauhaus Meierei, wo, der Name sagt es schon, selbst gebrautes Bier zum Ausschank kommt.
Zufällig ist Stefan Bicher auch gerade da, und wer Stefan kennt, weiß um seine tolle Stimme zum einen mit dem Ergebnis, dass wir beide lautstark den Song: „Es gibt kein Bier auf Hawaii…“ zum Besten geben, zum zweiten mit dem Ergebnis, dass ich in Bezug auf meine Zeitplanung in die Miesen rutsche, elf Stunden für knapp 80 km waren so nicht angedacht, doch was soll´s, ich bin ja zum Vergnügen hier, ab jetzt noch zweimal Marathon.
Motivierend wirkt sich der Umstand aus, dass ich die erste Hälfte völlig komplikationslos geschafft habe, möge es möglichst lange so weiter gehen.
Weiter geht es am Jungfern- und Krampnitzsee entlang zur Revierförsterei Krampnitz bei km 84, die Umrundung dieser beiden Seen auf einer Waldautobahn zum WP 2 bei Schloss Sacrow fiel mir in den ersten vier Jahren nicht so leicht wie jetzt.
Hier gönne ich mir nach 91 km wieder eine längere Pause, trinke ein Malzbier, putze mir die Zähne, registriere, dass ich mit 12:41 Std. mittlerweile vierzig Minuten hinter meinem Zeitplan herhinke, horche in meine Füsse, Beine, Gelenke hinein und bekomme keine negative Rückmeldung, also weiter.
Immer öfter trabe ich ganz langsam mit einem Gruß auf den Lippen und einem „Daumen hoch“ an gehenden Mitstreiter vorbei und merke, wie gut das für meine mentale Stärke ist.
Auf der anderen Seite ist mir auch klar, inwieweit es demotivierend wirken muss, nach knapp 100 km mit noch 60 km vor der Brust von einem älteren Herrn „locker“ überholt zu werden.
Nach Groß- Glienicke freue ich mich auf den VP 16 Pagel & Friends, wo ich mir in den Jahren davor immer ein alkoholfreies Hefe gegönnt habe.
Leider war das 2016 nicht möglich, der Vorrat war erschöpft, schade, aber nicht zu ändern.
Also schnappe ich mir eine Flasche Malzbier und wandere zügig weiter gen Norden, um endlich die „100“ zu knacken.
An VP 17 Karolinenhöhe bei km 103 lasse ich Olaf hinter mir, der hier ein längeres Päuschen einplant, kurz darauf joggt Joey K. an mir vorbei und fordert mich auf, mit zu kommen, ich lehne ab mit einem ehrlich gemeinten: Dein Tempo kann ich nicht gehen.
Allmählich wird es dämmrig, gut, dass ich Stirnlampe und Warnweste beim Schloss deponiert hatte, ich installiere alles, während ich weiter laufe, und genieße die sechs km zwischen dem VP 18 Falkenseer Chaussee und VP 19 Schönwalde bei km 116, die in den ersten Jahren ausgesprochen uneben und wurzelübersäht waren, mittlerweile laufen wir auch hier über Asphalt vom Feinsten, die Sturzgefahr tendiert gen Null genau wie die Gefahr des Verlaufens, da die Ausschilderung gerade bei Dunkelheit mit stark reflektierenden Pfeilen wirklich vom Feinsten ist.
Kurz vor dem Grenzturm Nieder Neuendorf passiere ich entlang der Havel km 120, ich staune über meine gute Verfassung, der Gedanke an einem eventuellen Einbruch blitzt kurz auf, wird aber sofort verdrängt durch einen viel besseren: Nur noch einen Marathon!
VP 21 gleich WP 3 beim Ruderclub Oberhavel gleich km 128 bietet noch einmal das volle Verpflegungsprogramm, eine Schmalzstulle mit einer Gurke, drei Oliven und Haribo- Konfekt, das Ganze runtergespült mit einer Cola geben mir die Kraft für die letzten gut 30 km.
Mittlerweile bin ich noch einsamer unterwegs als bei Tageslicht, kurz vor Frohnau im Norden beim Überqueren der A 111 erkenne ich einen Mitläufer an seinen Reflektoren weit vor mir, dem ich mich langsam, aber sicher nähere.
…und wer ist es: der Joey K.! Ich biete ihm einen Traubenzucker und einen Pfefferminz an, beides wird gern genommen, sein Geständnis: Ich bin völlig im A…! mag ich gar nicht glauben, aber wer sich sein Video auf www.100meilen.de reinzieht, sieht es ihm an.
Da ich noch nicht im A… bin, verabschiede ich mich zum VP 23, dem Naturschutzturm in Hohen Neuendorf bei km 139, nach vorn, treffe dort Thomas Ketteler aus Ostercappeln, und bin schon wieder weg, um den letzten Halbmarathon in Angriff zu nehmen.
Kurz vor VP 25 vom Lauftreff Lübars bei km 150 laufe ich auf Tanja Niedick auf, die von ihrem GöGa supportet wird und wie immer gute Laune versprüht, kurz vorm S- Bahnhof Wilhelmsruh passiere ich Holger Sigl von den Ultrafriesen, ein Umstand, der bei einem „normalen“ Marathon nie eintreten würde, aber diese 100 Meilen sind, das wird mir von km zu km klarer, mein Lauf, und der Buckle, den Günter mir schon seit Jahren einreden will, scheint tatsächlich Realität zu werden.
Und je näher das Ziel rückt, desto klarer wird für mich, dass diese 100 Meilen aus mehreren Gründen meine letzten sein werden.
Erstens werde ich im kommenden Jahr 70 Jahre jung, und noch solch ein Lauf über diese Distanz in dieser Zeit wird mir nicht gelingen, da bin ich Realist. Zum zweiten möchte ich, dass mein Kopf dem Körper sagen kann: Das hast Du bisher toll gemacht, jetzt ist es gut gewesen!, ich möchte nicht, das der Körper dem Kopf sagen muss: Ich kann nicht mehr!
Allmählich hat die Stadt mich wieder, ich sehe die Flutlichtmasten des Stadions, sehe die Max- Schmeling- Halle, noch eine 90 Grad- Linkskurve, dann leicht abschüssig zum Sportplatztor, eine Ehrenrunde auf einer eindrucksvoll illuminierten Laufbahn, das Ziel!
Ich drücke auf die Uhr und mag es kaum glauben, 22:56 Stunden, drei Stunden schneller als im Vorjahr und knapp dreieinhalb Stunden schneller als der Zweite der M 65, obwohl das nichts ist gegen Keule Neumann, der seine Vorjahreszeit gar um über vier Stunden toppt, allerdings in der AK den zweiten Platz belegt hat.
Meine Frau, die in diesem Jahr leider nicht dabei sein konnte, mich aber im Liveticker verfolgt hat, signalisiert per Whatsapp Begeisterung und Bewunderung.
Ronald Musil kümmert sich dankenswerterweise um ein Taxi, das mich um diese Uhrzeit staufrei zum H2- Hotel bringt, ich dusche und schlafe noch ein wenig, bevor dann im Ramada die Siegerehrung stattfindet mit dem für mich unwiederholbar guten Ergebnis, dass ich in der Gesamtwertung 77. von 318 und bei den Männern 65. von 256 geworden bin.
Erfreulicherweise haben alle fünf Läufer des 100 Marathon Club auch heuer gefinisht und werden mit einem Buch „Die Berliner Mauer in der Welt“ besonders geehrt, außerdem gibt es das obligatorische Finishershirt mit Motiven vom Mauerkünster Thierry Noir, den Mauerstein, eine Finishermedaille, u. a. für mich eine Back2back- Medaille, endlich nach vier vergeblichen Anläufen den Buckle und ein in Plexiglas gefasstes Stück der Berliner Mauer.
Das also war MEIN letzter 100- Meilen- Lauf, meine Entscheidung ist für mich die Richtige, zumal es auch noch schöne Veranstaltungen gibt, die kürzer sind.
Ob ich mich einmal dazu bewegen lasse, in einer Zweier- Staffel anzutreten, wird die Zukunft zeigen.
Allen jungen Leuten, die andenken, einmal über diese Distanz unterwegs zu sein, lege ich Berlin eindringlich ans Herz, weil es eine mit ganz viel Herzblut von tollen und engagierten Leuten und einer Volunteertruppe, die ihresgleichen sucht, durchgeführte Veranstaltung ist, die für mich in der Kategorie: Betreutes Laufen! auf Platz 1 steht.


100 Meilen Berlin - Der Mauerweglauf |